Was ist Trauma?
Wie ein traumatisches Erlebnis Körper, Gehirn und Verhalten dauerhaft verändert
(Teil 1 der Serie über transgenerationale Traumatisierung)
Dieser Artikel ist Teil einer Blogreihe zum Thema transgenerationale Traumatisierung – dem Phänomen, dass nicht verarbeitete Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden können. Um zu verstehen, wie Traumata überhaupt „vererbt“ werden können, ist es zunächst notwendig, ihre Entstehung und Wirkung zu begreifen.
In diesem ersten Teil wird erklärt, was Trauma auf neurobiologischer Ebene ist, welche körperlichen und psychischen Folgen auftreten können und wie sich ein traumatisiertes Gehirn von einem nicht-traumatisierten unterscheidet. Zudem wird beleuchtet, welche Rolle Unentrinnbarkeit, Neurotransmitter und Bewegung oder Erstarrung spielen – und warum ein traumatisiertes Nervensystem langfristig unter Anspannung bleibt.
Was ist ein Trauma?
Ein Trauma ist ein Ereignis von so großer emotionaler Wucht, dass es sich tief in das Gehirn eingräbt – als eine Art „biologischer Alarm“, der verhindern soll, je wieder in eine vergleichbare Situation zu geraten. Die betroffene Person durchlebt das Erlebnis oft in Form von Flashbacks, Albträumen oder chronischem Stress immer wieder – auch ohne bewusste Erinnerung.
Ein Trauma entsteht dann, wenn vier Bedingungen erfüllt sind:
Ein erschütterndes Ereignis
Starke emotionale Reaktionen – meist Angst oder Wut
Bedeutung für das Überleben oder emotionale Sicherheit
Unentrinnbarkeit – die betroffene Person kann der Situation nicht entkommen
Wenn alle vier Komponenten vorliegen, verändert sich die Biochemie des Gehirns nachhaltig. Besonders betroffen sind die Amygdala (Gefahrenwahrnehmung), das limbische System (Emotionsverarbeitung) und der präfrontale Cortex (Reflexion & Emotionsregulation).
Biologische Stressreaktion: Kampf, Flucht oder Erstarrung
In Gefahrensituationen aktiviert der Körper zunächst den Sympathikus – den Teil des Nervensystems, der für Aktivierung zuständig ist. Hormone wie Adrenalin und Noradrenalin bereiten den Körper auf Kampf oder Flucht vor: Blutdruck steigt, Muskeln spannen sich an, Sinne werden geschärft.
Kann die betroffene Person fliehen oder aktiv handeln, wird das Ereignis meist nicht traumatisch gespeichert. Traumatisierend wird ein Erlebnis erst dann, wenn keine Handlung mehr möglich ist. Dann reagiert der Körper mit Erstarrung – einer Schutzstrategie, die mit extrem hoher Muskelanspannung und Dissoziation (Abspaltung vom Erleben) einhergeht. Das Nervensystem „friert ein“, um Schmerz zu vermeiden – mit weitreichenden Folgen.
Trauma als evolutionäres Überlebensprogramm
Trauma ist aus evolutionärer Sicht ein Überlebensmechanismus. In einer unentrinnbaren Gefahrensituation speichert das Gehirn die Erfahrung dauerhaft ab, um sie in Zukunft möglichst zu vermeiden. Dies geschieht unter dem Einfluss spezifischer Botenstoffe, wie z. B. Glutamat, Noradrenalin und Cortisol, die neue neuronale Bahnen formen.
Emotionale Inhalte und sensorische Reize werden im sogenannten nicht-deklarativen Gedächtnis gespeichert – also jenseits der bewussten Erinnerung. Deshalb können Menschen mit Traumaerfahrung bestimmte Geräusche, Gerüche oder Orte als hoch bedrohlich empfinden, ohne zu wissen, warum. Diese Reize wirken als Trigger.
Symptome einer Traumafolgestörung
Traumatische Erfahrungen wirken sich oft langfristig auf Körper, Verhalten und Emotionen aus – auch wenn sich die Betroffenen nicht aktiv an das Ereignis erinnern. Zu den häufigsten Symptomen gehören:
Psychische Symptome:
Flashbacks, Albträume, intrusive Gedanken
emotionale Taubheit, Dissoziation, depressive Verstimmung
starke Schuld- und Schamgefühle
Bindungsschwierigkeiten und Misstrauen
Hypervigilanz (ständige innere Alarmbereitschaft), Konzentrationsprobleme
Wiederholungszwang (unbewusste Reinszenierung traumatischer Situationen)
Körperliche Symptome:
chronische Muskelverspannungen (v. a. Schultern, Rücken, Kiefer)
Schmerzen, Migräne, Reizdarm, hormonelle Störungen
Schlafstörungen, Erschöpfung, Atemprobleme
Autoimmunerkrankungen und ein geschwächtes Immunsystem
Trauma wirkt auf allen Ebenen: emotional, vegetativ, somatosensorisch, kognitiv und motorisch. Viele dieser Symptome entstehen durch die anhaltende Übererregung des Nervensystems – oder durch eine Starre, in der das System „stecken geblieben“ ist.
Der Wiederholungszwang: Wenn Trauma sich selbst reinszeniert
Ein besonders tragischer Mechanismus ist der Wiederholungszwang. Das Nervensystem versucht, das unverarbeitete Trauma „nachzuholen“ – durch unbewusste Wiederholung. Betroffene suchen sich z. B. Partner, die sie emotional verletzen, oder begeben sich wiederholt in bedrohliche Situationen.
Wichtig: Dieses Verhalten geschieht unbewusst und ist kein Zeichen von Schwäche oder Schuld. Es ist ein neurologischer Lösungsversuch – wenn auch oft ein destruktiver.
PTBS oder komplexe PTBS?
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entsteht meist nach einem einzelnen Ereignis, wie einem Unfall oder einer Naturkatastrophe.
Komplexe PTBS (KPTBS) ist die Folge wiederholter oder andauernder Traumatisierung, oft in der Kindheit (z. B. durch Missbrauch, Vernachlässigung oder Gewalt). Sie wirkt sich oft tiefgreifend auf Beziehungen, Selbstbild und Alltag aus und ist deutlich schwerer zu behandeln.
Warum Trauma den Körper mit Schmerzen überzieht
Neben psychischen Symptomen sind körperliche Beschwerden häufig. Besonders relevant ist dabei die dauerhafte Muskelanspannung, die aus nicht entladener Bewegungsenergie entsteht – also aus Flucht- oder Kampfimpulsen, die nie umgesetzt wurden.
Zusätzlich reagiert auch die Hirn- und Rückenmarkshaut (harte Hirnhaut) sensibel auf Stresshormone. Diese kann sich zusammenziehen und so das Nervensystem regelrecht „einengen“, was u. a. Migräne, Schwindel oder Rückenschmerzen zur Folge haben kann – ein Bereich, der vor allem in der Osteopathie eine zentrale Rolle spielt.
Fazit: Trauma ist keine Schwäche – es ist ein biologisches Überlebensmuster
Ein traumatisiertes Nervensystem lebt in einem dauerhaften Ausnahmezustand, der sich nicht einfach „wegdenken“ lässt. Trauma ist nicht „nur psychisch“, sondern auch tief in den Körper und das Gehirn eingebrannt.
Dieser Artikel bildet die Grundlage für das Verständnis von transgenerationaler Traumatisierung. In den kommenden Teilen der Serie wird gezeigt, wie Trauma unbewusst weitergegeben wird – und wie Heilung dennoch möglich ist.
Suchst du Hilfe?
Wenn du dich in den beschriebenen Symptomen wiedererkennst, findest du Hilfe unter:
116 117 (Vermittlung eines Therapieplatzes in Deutschland)
Bei akuter Krise: Telefonseelsorge 0800-1110111
Mehr zu Traumatherapie mit Havening und osteopathischer Arbeit mit Traumafolgen findest du auf www.paulaklisiewicz.de.